Reiseantritt
Irgendwo auf der Welt ist es gerade Mittag, hier ist es Abend. Aber für mich ist es High Noon. Mein Gegner und ich starren uns gegenseitig an: Ich ein Mensch, er eine Packung Psychopharmaka. Wir sitzen uns am Wohnzimmertisch gegenüber, ein Glas Wasser zwischen uns, in meinem Kopf spielt eine Melodie von Ennio Morricone. The Good, the Bad and the Antipsychotic.Wir starren uns an. Ich zwinkere ungehemmt, mein Gegner ist eine Packung Tabletten und kein Revolverheld, nicht jeder Vergleich muss bis ins Lächerliche gesteigert werden. Vielleicht ist meine Situation auch eher mit der des Faust, bevor er seinen Pakt mit Mephistoteles schließt, zu vergleichen. Oder auch nicht, denn nicht alles, was hinkt, ist auch ein Vergleich.
Pathos, das kann ich.
Ich denke darüber nach, warum es mir so schwer fällt, jetzt einfach dieses Medikament zu nehmen. Es ist wohl meine Eitelkeit. Tabletten zu nehmen ist der letzte Schritt zur endgültigen Einsicht, dass ich schwach bin, schwach und krank und Hilfe benötige. Menschen mit Sorgen machen eine Therapie, aber Tabletten zu nehmen ist den wirklich psychisch Kranken vorbehalten.
So will ich mich nicht sehen, als schwacher Kranker, aber vielleicht sollte ich das (sagt die Vernunft), zumindest vorläufig, denn so fühle ich mich doch auch, immer wieder. Ein Athlet mit einem Bänderriss hat doch auch keine Probleme damit, zu begreifen, dass er nicht mehr weiter machen kann, vorläufig.
Zur falschen Eitelkeit mischt sich ehrliche Furcht. Was werden die Tabletten mit mir machen? Werden sie Teile meiner Persönlichkeit unterdrücken, die ich doch eigentlich mag, meine zugegebenermaßen manchmal überschießende Fantasie, meine Kreativität, meine unkonventionellen Ideen, die manchmal Leute zum Nachdenken oder Lachen bringen? Werde ich zu einem Zombie, der nur noch stur robotet?
Aber genau das ist doch das, was ich schon jetzt immer wieder mache (sagt die Vernunft), mich stur und einsam durch die Tage schleppen, Dienst nach Vorschrift und dann mit dem Wunsch einschlafen, nicht mehr aufwachen zu müssen. Und ist nicht mein manchmal auf rotglühender Hochgeschwindigkeit laufendes Hirn auch etwas, das mich immer wieder plagt und einsam macht und mir versagt, etwas Produktives zu tun, während ich mich an Windmühlen abarbeite, die ich diesmal aber bestimmt besiegen werde?
Weiterhin starre ich die Packung Tabletten an.
Es ist doch absurd (sagt die Vernunft). Ich habe doch eigentlich überhaupt keine Probleme damit, mit Chemie in meinen Synapsen rumzufuhrwerken. Das mache ich, macht fast jeder, täglich. Koffein am Morgen, Nikotin zwischendurch, Alkohol am Wochenende. Früher rauchte ich Cannabis, bis ich untrennbar mit der Couch verwachsen war, schniefte weißes Pulver von dreckigen Spiegeln, bis ich 48 Stunden lang umher sprang, schluckte fremdartige Kristalle, bis ich blind vor künstlichen Glücksgefühlen in der Ecke lag.
Und heute, jetzt, habe ich Angst davor, was ein bewährtes, sicheres Medikament mit meinem Kopf anstellen könnte. Absurd.
Ich merke, wie ich das Wettstarren verliere und erinnere mich daran, was ich mir versprochen habe: Dass ich nicht mehr hin und her gerissen in einem Sturm aus Unsicherheit und Affektwellen leben möchte, leben kann. Dass ich alles versuchen will und werde, das zu ändern.
Ich raffe mich auf. Eitelkeit und Furcht haben das Duell verloren, aber ich vielleicht eine Chance gewonnen. Ich öffne die Packung, nehme eine Tablette aus dem Blister und spüle sie mit Wasser herunter. Irgendwo auf der Welt ist es gerade Mittag, hier ist es Abend. Aber für mich ist es ein neuer Morgen.
In meinem Kopf spielt jetzt New Order.