Bierglasspiegelbrief
Ich sehe dich und ich kenne dich, denn ich bin du und versuche, nicht mehr du zu sein. Trotzdem begegnen wir uns dort, wo Menschen wie wir uns versammeln: Nach Mitternacht, unter der Woche, in einer verrauchten Kneipe, betrunken.Ich sehe, wie du alleine in der Ecke sitzt, denn das ist dein Stammplatz. Ich sehe, wie du durch einen Alkoholschleier deine Umgebung beobachtest, taxierst, interpretierst und in Verachtung all jener Erkenntnis, die du aus diesen Beobachtungen ziehen magst, in Untätigkeit verharrst. Nicht nur heute Abend, sondern stets und immer. Darum trinkst du, heute, morgen, dein Stammplatz hier ist dir sicher.
Du hoffst auf eine Enthemmung durch den Alkohol, denn es hat doch auch damals geholfen, als du zu schüchtern warst die süße Blonde aus der Parallelklasse anzusprechen, damals auf der Klassenfahrt, du hast ihren Namen vergessen, aber du hast sie immerhin angesprochen, damals, betrunken, und hast einen Korb kassiert, den ersten und letzten Korb in deinem Leben.
Seit dem versprichst dir vom Alkohol diese eine singuläre Erfahrung von Mut und Initiative wieder zu finden. Aber er hat nicht geholfen. Du wurdest durchs Leben getrieben, bist angeschwemmt worden, in einer Ehe, in einer Vaterschaft, in einer Scheidung, aber hast doch nie gehandelt, nie wirklich gehandelt. Aber immer getrunken, um dieses eine Gefühl von Selbstwirksamkeit wieder zu fühlen, denn du hast nie gelernt, es anders zu fühlen.
Du hoffst auch auf Beruhigung durch den Alkohol, denn alle deine Freunde, mit denen du damals bis zum Morgengrauen um die Häuser gezogen bist, haben irgendwann aufgehört mit dir zu trinken, sie haben neue Ziele entdeckt als verwaschene Erinnerungen zu produzieren, sie haben sich nicht einfach nur treiben lassen, haben jetzt trockenes Land unter den Füßen, sind zuhause bei ihren Familien und du bist hier, nach Mitternacht, unter der Woche, in einer verrauchten Kneipe, betrunken. Irgendwann hast du das erkannt.
Seit dem versprichst du dir vom Alkohol, mit einem Schleier diese schmerzhafte Realisation zu verdecken, so wie er es oft getan hat. Aber er hilft nicht immer. Du treibst weiter ohne Ziel und immer öfter wünscht du dir, zu sterben oder etwas zu ändern, aber handelst doch nie, handelst nie wirklich. Aber du trinkst, um ein Gefühl von Ruhe zu spüren, denn du hast nie gelernt, es anders zu spüren.
Ich sehe dich und ich kenne dich, hier, wo Menschen wie wir uns versammeln: Nach Mitternacht, unter der Woche, in einer verrauchten Kneipe, betrunken. Wir sitzen hier gemeinsam, aber eines trennt uns doch: Jahrzehnte an Entscheidungen, die du nicht getroffen hast, aber die ich noch treffen kann. Jetzt gerade bin ich du, nach Mitternacht, unter der Woche, in einer verrauchten Kneipe, betrunken. Aber ich werde nicht mehr du sein, nach Mitternacht, unter der Woche, in einer verrauchten Kneipe, betrunken.
Ich werde, bin schon, jemand Anderes.