Knut Elmich - Fragmente, Miniaturen und Gedanken

Abschiedsbrief (an H.)

Du hast getan, was du meintest zu müssen. Du hast dir am frühen Morgen die Schlinge um den Hals gelegt, aber eigentlich war sie schon immer um deinen Hals gewesen. Beständig würgte sie dich und versagte dir, zu sprechen. Über deine Träume und Traumata und was dir im Innersten weh tut.

Nur wenn der Alkohol die Schlinge ein bisschen gelockert hatte, dann ging es. Dann konntest du sprechen, ein bisschen verwaschen, ein bisschen inkohärent, aber immerhin. Über alles, was sich in dir aufgestaut hatte und auch über Banales und Lustiges.

“Danke fürs Zuhören”, hast du mir noch per SMS geschrieben, nachdem du mir am Telefon am Abend davor unter Tränen davon erzählt hast, wie dich damals der stinkende Terror des Krieges verletzt hat. Du warst betrunken, klar, und ich war abgelenkt, klar, ich war im Feierabend und es war ja nicht das erste Mal gewesen, dass du mich abends betrunken angerufen hast. Also hörte ich mit nur einem Ohr zu, war ein bisschen genervt, war auch ein bisschen überfordert und empfahl dir, erst mal wieder nüchtern zu werden. Irgendwann habe ich mich verabschiedet und aufgelegt, denn es wurde mir zu viel. Ich dachte, es wäre wie immer, du betrinkst dich, sprichst und hast einen Kater und nichts passiert. Was ich nicht sah: Die Schlinge hatte sich ein letztes Mal gelockert, um sich dann für immer zuzuziehen.

Und alles ist passiert.

Hätte ich es wissen können? Hätte ich besser zuhören sollen? An diesem Abend und die ganze Zeit davor? Ich wusste doch um die Schlinge um deinen Hals. Ich hätte sie dir nicht abnehmen können, aber lockern vielleicht. Ohne Alkohol. Damit du sprichst und ich zuhöre und sich nichts mehr aufstaut oder vielleicht auch endlich löst. Habe ich damit versagt? Als Pfleger, als Mensch?

Es fühlt sich so an.

Dabei waren an dem selben Abend ja noch meine Kollegen bei dir. Und die Polizei. Du hattest sie selber gerufen, als du merktest, wie du die Kontrolle verlierst. Aber mit ihnen konntest du nicht sprechen, die Schlinge hatte sich schon zu sehr zugezogen. Mit mir hingegen hattest du gesprochen. Irgendwie sind wir ja auch Kumpels gewesen, so unprofessionell das gewesen sein mag. Mir hast du mehr vertraut als meinen Kollegen. Habe ich dich enttäuscht?

Es fühlt sich so an.

Scham und Schuld drücken Tränen aus mir heraus. Als dein Pfleger möchte ich dich um Verzeihung bitten für meine Ignoranz, aber als dein Kumpel möchte ich dich packen und schütteln, was dir denn einfällt, sterben, einfach so?! Aber ich kann beides nicht. Ich bin machtlos vor der Tatsache, dass du jetzt weg bist. Einfach so. Dass ich versagt habe. Einfach so.

Mir bleibt dir nur zu wünschen, dass wo immer du bist du keine Schlinge mehr um deinen Hals trägst, dass sie sich ein letztes Mal zugezogen hat, nur um dann zu zerreißen.

Und mir nur zu schwören, aufmerksam zu sein, zuzuhören und nie mehr eine Schlinge um dem Hals eines Menschen zu übersehen, bevor sie sich endgültig zuzieht.