Versucht
Ich stand vor der Tür und erstarrte, die Klinke in der Hand. Mein Torso wurde mir aus dem Leib gerissen, Leere zurücklassend. Ich beobachtete mich selbst von außen, so wie ein desinteressierter Passant mich sähe: Ich war nur noch Kopf, Arme und Beine. Der eine Arm ausgestreckt an der Tür, die Beine in Schrittstellung verharrend, die Augen müde und leer."Ich kann nicht mehr", formulierte sich das Nichts in mir mühsam zu Worten. "Ich kann das nicht. Nicht mehr. Ich brauche Hilfe."
Langsam betrat ich wieder meinen Körper. Mein Torso kehrte zurück, dennoch war ich nicht vollständig, etwas fehlte. Mit einem Ruck überwand ich meine Starre und öffnete die Tür. Sie fiel sanft hinter mir ins Schloss, doch ihr Klicken klang endgültig.
Er erwartete mich bereits, saß neben meinem Schreibtisch und grinste mich hämisch an. "Die Pflicht ruft also erneut das kleine Schweinchen in den Schlachthof", meinte er süffisant.
"Lass mich in Ruhe arbeiten."
"Wie du willst, du weißt, wo du mich findest." Er stand auf und ging.
Ich blickte ihm nicht nach und fuhr meinen Computer hoch. 113 Mails warteten auf Beantwortung. Schlagartig wurde mir bewusst, wie laut es im Großraumbüro war, die Stimmen meiner Kollegen, das Klappern der Tastaturen, das Telefonklingeln, alles türmte sich um mich herum zu einer kakophonischen Welle auf und stürzte auf mich herab.
"Da bist du ja, hast du den Tag gut überstanden?" Er stand im Supermarkt wie aus dem Nichts kommend neben mir, als ich gerade überlegte, ob die passierten Tomaten einer renommierten Marke wirklich ihren dreifachen Preis rechtfertigen würden, verglichen mit den passierten Tomaten eines markenlosen Herstellers.
"Ich lebe noch, das siehst du doch." Angestrengt musterte ich die Zutatenlisten der beiden Produkte in meinen Händen und versuchte, ihn zu ignorieren.
"Aber wie, wie lebst du? Sieh dich doch an!"
Ich packte die passierten Tomaten des markenlosen Herstellers in meinen Korb, wandte mich ab und ging wortlos weiter.
"Weißt du, was gut zu deinen Spaghetti mit Tomatensoße passen würde? Ein schöner, trockener Rotwein!" Er hielt mit mir Schritt.
"Es ist Dienstag, da trinke ich heute nichts", erwiderte ich.
"All diese Selbstdisziplin, wofür?"
Ich ging immer schneller, eine Kasse ohne Schlange, perfekt. Als ich gezahlt hatte und den Laden verließ, war er verschwunden. Zuhause fand ich eine Flasche trockenen Rotwein in meiner Tasche neben den passierten Tomaten, Knoblauch und Zwiebeln. Die Nudeln hatte ich jedoch vergessen. Ich hatte sowieso keinen Hunger.
Ich trieb leblos im Lärm und versuchte meine hämmernden Kopfschmerzen zu ignorieren, als ich Mail Nummer 23 von 122 dieses Morgens beantwortete. Der Kollege am Schreibtisch neben mir bearbeitete mit sinnlicher Gewalt seinen Tacker und jedes Mal fühlte es sich an, als schieße er seine Klammern direkt in meine Frontallappen.
"Na, gut geschlafen?" Er tauchte wieder ungefragt neben mir auf und setzte sich mit überschlagenen Beinen auf meinen Schreibtisch.
"Lass mich endlich in Ruhe." Ich versuchte mich wieder auf Mail Nummer 23 zu konzentrieren, aber blickte nur auf verwaschene Zeilen, die meisten großzügig mit rot unterstrichen.
"Hey, mach dich mal locker, mein fleißiges Schweinchen. Sieh nur, dort hast du dich verschrieben", sagte er und deutete auf meinen Bildschirm.
"Das sehe ich", knurrte ich. "Lass mich in Ruhe, bitte!"
"Das würde bedeuten, dich im Stich zu lassen. Ich sehe doch, wie du dich plagst."
"Gerade plagst du mich, also geh!"
"Das meine ich doch, mein bemühtes Schweinchen." Er stand auf und ging.
Ich sah auf die Uhr. Sie schien rückwärts gelaufen zu sein.
Das nächste mal begegnete er mir am darauffolgenden Morgen, als ich wieder wie versteinert vor der Eingangstür stand. Noch war ich vollständig, auch wenn alle meine Körperteile noch nicht so recht zueinander passen wollten.
Ich sah ihn hinter der Tür auf mich zukommen. Er öffnete sie, trat einen Schritt beiseite und verbeugte sich theatralisch vor mir, als wolle er einem König Einlass gewähren. "Lasset fahren alle Hoffnung, ihr, die ihr hier eintretet!", rief er voller Pathos.
"Was willst du? Soll ich kündigen? Damit ich meine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann?"
"Ich will nur dein Bestes, meine hoffnungsvolles Schweinchen, nur dein Bestes!"
Ich schenkte ihm keine weitere Beachtung und ging durch die Tür.
Ich hatte ihm am Abend noch einmal kurz im Supermarkt gesehen. Er sprach nicht mit mir, sondern zwinkerte mir nur breit grinsend zu, als ich an den Spirituosen vorbei zur Kasse ging.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, stank mein Bett und war klebrig. Trübe stellte ich fest, dass ich mich wohl im Schlaf übergeben hatte. Mein Kopf schien platzen zu wollen, alles drehte sich, aufzustehen war jetzt gerade keine Option.
"Nanana, wer hat sich denn da am Donnerstagabend schon die Kante gegeben? Was gab es denn zu feiern?"
"Das warst du", presste ich mit pelziger Stimme hervor. "Du hast mir den Whisky in die Tasche getan! Was willst du überhaupt in meiner Wohnung?"
"Sehen, wo du bleibst. Du hättest schon vor fünf Stunden auf der Arbeit sein müssen."
"Scheiße!", entfuhr es mir. Auch der nächste Versuch aufzustehen war nicht von Erfolg gekrönt.
Er lachte. "Keine Angst, du wirst dort von niemandem vermisst. Bleib doch liegen, schlaf dich aus. Wir sehen uns heute Abend." Er verließ mein Schlafzimmer und als er die Tür hinter sich schloß klang es wie das Schließen eines Sargdeckels.
"Es ist Freitagabend, Zeit zu feiern, oder nicht?" Er stand mit einem Kasten Bier vor meiner Wohnung.
Ich schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Am Wochenende verschlief ich die Tage, verbrachte die Nächte still zitternd vor dem Fernseher, während er still lächelnd im Schatten saß, meinen Kopf unter seinem Arm.
In der darauffolgenden Woche erhielt ich eine Abmahnung, da ich mich am vorherigen Freitag nicht krank gemeldet hatte. Als ich zuhause drei verschmutzte Garnituren Bettwäsche in die Waschmaschine stopfte, stand er plötzlich wieder neben mir. "Sieh dich nur an, mein dreckiges Schweinchen. Bist du stolz auf dich?"
Ich gefror vor Schock, nur um danach aus Verzweiflung zu zerfließen. Ich sank auf die Knie und fing an zu heulen: "Was willst du! Lass mich in Ruhe! Verstehst du, geh, verschwinde!"
Als ich schluchzend meine Selbstbeherrschung wiederfand war er gegangen.
"Einen guten Morgen!", rief er mir entgegen, als ich zur Arbeit ging. Er stand draußen neben der Eingangstür, mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt.
Ich drehte auf dem Absatz um und von der nächsten Telefonzelle aus meldete ich mich krank.
"Sie sehen wirklich nicht gut aus, wenn ich das so sagen darf." Kritisch beäugte mich mein Hausarzt über die Gläser seiner Brille hinweg. "Ich schreibe Sie vorläufig krank. Ich denke, etwas Entspannung würde Ihnen gut tun. Etwas, um den Stress abzubauen. Haben Sie schon einmal Yoga probiert?"
"Na, da geht es dir doch schon besser. Siehst du, mein verlorenes Schweinchen, es ist alles halb so wild, du musst nur mal aus dir herauskommen!" Er schenkte mir Rotwein nach.
"Aus mir heraus kommen, sagst du. Alles was ich mache, ist mich weiter in mich zurückzuziehen."
"Das meine ich, erst musst aus dir heraus und dann wieder in dich hinein. Ab und zu brauchst du Abstand zu dir selber. Du weißt, wieso. Oder soll ich dir deine Fehler noch einmal aufzählen? Soll ich dir noch mal einschenken?"
"Nein. Das hast du schon oft genug getan."
Er schenkte mir Rotwein nach.
"Ich hasse dich!", schrie ich ihn an. "Ich hasse dich, hasse dich, hasse dich! Lass mich in Frieden!"
"Aber aber, du hast mich doch gerufen, mein schwaches Schweinchen! Du hast um Hilfe gebeten und ich bin gekommen!"
"Das ist keine Hilfe, du bringst mich um!"
"So siehst du das also? Du bist doch zerbrochen! Du warst doch voller Risse, wolltest doch raus, musstest doch raus, bevor dich deine Arbeit, dein verkorkstes Leben endgültig zerschmettert! Hast doch insgeheim geträumt, von einem anderen Leben! Und habe ich nicht Wort gehalten, du undankbares Schweinchen? Habe ich nicht Wort gehalten?"
"Das ist kein Leben mehr, das ist ein Sterben auf Raten!"
"Was ist ein Leben jemals mehr als das? Aber sieh dich doch nur an, diese Wut! Das hättest du früher doch nicht gekonnt! Du lebst! Du lebst doch! Durch mich!"
Der Wind zerrte kalt an mir. In der einen Hand hielt ich die Flasche mit billigem Wodka, mit der anderen klammerte ich mich an das eiserne Brückengelände und versuchte, meinen schwankenden Körper zu stabilisieren. Ich beobachtete mich selbst von innen: Ich war nur noch ein schwerer, formloser Torso, meine Glieder und mein Kopf gehörten nicht mehr zu mir.
"Du hast mich ruiniert und zerstört! Ich hatte wenig, jetzt habe ich nichts!"
"Aber nein, du hast doch mich und ich habe dich! Wie willst du daran etwas ändern? Ich werde immer da sein, mein armseliges Schweinchen, ich werde dich immer beobachten, ich werde dich immer begleiten. Es sei denn, du springst hier und jetzt in den Tod, ist es das, was du willst? Sterben? Jetzt? Hier? Auf diese Weise?" Er deutete über das Geländer in die Dunkelheit hinaus. Unter uns fuhren Züge durch die Nacht.
"Halt dein Maul, halt endlich dein Maul!", schrie ich voller verzweifelter Wut, bäumte mich auf und warf ihm ungelenk die Flasche ins Gesicht. Ich verlor die Balance. Meine Beine wurden weggerissen, Leere zurücklassend. Ich stürzte.
Kalter Regen im Gesicht weckte mich. Stöhnend wälzte ich mich auf dem von Erbrochenen bedeckten Boden und versuchte mich aufzurichten. Meine Glieder und mein Kopf kehrten langsam und widerstrebend zu mir zurück, dennoch war ich nicht vollständig, etwas fehlte noch immer. Mit einem Ruck zog ich mich hoch. Schwer atmend stützte ich mich auf das Brückengeländer und starrte in das Morgenrot. Unter mir fuhren Züge in den Tag.
"Ich kann nicht mehr", formulierte sich der Schmerz in mir zu mühsamen Worten. "Ich kann das nicht. Nicht mehr. Ich brauche Hilfe."