Knut Elmich - Prosa

Sturmtief

Der kalte Regen schlägt dir wie eine Faust ins Gesicht, wird vom Wind durch deine vollgesogene Kleidung gedrückt und hat dich schon längst bis auf die Knochen durchnässt. Alles um dich herum wird von einem undurchdringlichen Grau verschluckt, nur wenn ein Blitz den Himmel zerteilt, zeichnen sich für einen kurzen Augenblick die dunklen Konturen der Häuser um dich herum ab. Der ohrenbetäubende Donner scheint dich zu Boden werfen zu wollen.

Zitternd versuchst du dich gegen den Sturm zu stemmen und machst einen kleinen Schritt nach dem anderen. Du musst weiter, aber wohin? Die Kälte frisst sich in deine Finger, in deine Zehen, in deine Nase. Mit klammen Fingern schirmst du deine Augen ab, versuchst dich zu orientieren, doch erkennst du nichts wieder. Du bist ein Fremder hier und der Sturm hat jedes Recht dich zu Boden zu werfen, zu durchnässen, zu ertränken. Du gehörst nicht in diese Stadt.

Ein weiterer Schritt, ein weiterer Blitz, ein weiterer Donnerschlag. Die Fenster der Häuser um dich herum sind verdunkelt, in keinem brennt ein Licht. Du meinst die teilnahmslosen Blicke ihrer Bewohner auf dir zu spüren, wie sie dich aus der Dunkelheit heraus beobachten. Du traust dich nicht bei ihnen Hilfe zu suchen. Keiner von ihnen wird dir Obdach bieten oder auch nur kurz Schutz vor dem Sturm, denn warum sollten sie auch jemandem wie dir helfen? Einem Fremden, einem Herumtreiber? Sie werden dir die Türe vor der Nase zuschlagen, wenn du deinen Mut zusammennimmst und zitternd und durchnässt bei ihnen anklopfst, das ist gewiss.

Ein Schritt, ein Blitz, der Donner dröhnt. Du keuchst und schleppst dich weiter. Jede Böe, die gegen dich schlägt, raubt dir weiter Kraft. Deine kalten Muskeln schmerzen und brennen. Hagelkörner dreschen auf dich ein und zwingen dich in die Knie. Auf allen vieren kriechst du weiter, während der Sturm dich erbarmungslos auspeitscht. Weiter, nur weiter, egal wohin.

Kriechen, Blitzen, Donnerschlag. Du versuchst dich zu erinnern, wann du zum letzten Mal warme Sonnenstrahlen auf der Haut gespürt hast, aber es gelingt dir nicht. Da ist nur der Sturm und da wird immer nur der Sturm sein, denn dieser Sturm ist dein Schicksal, du hast dir kein Licht und keine Wärme verdient.

Blitz und Donner. Du brichst entkräftet zusammen, dir fehlt die Kraft, um weiter zu kriechen. Weiter prügelt der Himmel auf dich ein, aber du kannst dich nicht mehr wehren. Eine Pause nur, bitte nur eine kurze Pause. Du verlierst das Bewusstsein und samtene Stille breitet sich in dir aus, während der Sturm das letzte bisschen Tribut von deinem geschundenen, durchnässten, erfrorenen Leib fordert.

Bald lässt der Regen nach und es brechen die ersten warmen Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Zaghafter Vogelgesang verkündet das Ende des Unwetters. Die Bewohner der Häuser trauen sich wieder nach draußen, dort finden sie bald deinen zusammengekrümmten, leblosen Körper auf der Straße liegen. Eine kleine Traube bildet sich um dich, betroffene Minen in den Gesichtern und Ratlosigkeit in den Gedanken.

Dieser arme Mensch. Warum hat er nur nicht bei einem von uns angeklopft?